Ausstieg aus dem Crash

Halbzeit


Wenn durch die CO2-Wirtschaft mit der Reduzierung des Verbrauchs von fossilen Energieträgern Ernst gemacht und wenn der Materialverbrauch konsequent eingeschränkt wird, kommt etwas zum Vorschein, was man drastisch illustriert an einem Menschen beobachten kann, der dreißig oder vierzig Kilogramm Übergewicht hatte und durch eine schwere Krankheit oder eine Schlankheitskur innerhalb von wenigen Wochen zwanzig oder dreißig Kilogramm abgenommen hat. Überall am Körper dieses Menschen entstehen Hautfalten und -säcke, die eine Zeitlang unübersehbar daraufhinweisen, wo überall das überflüssige Fett abgelagert war.

Ebenso werden in einer sich verschlankenden Industriegesellschaft viele Projekte, die im Energierausch und in der Naturvergessenheit der vergangenen Jahrzehnte geplant und realisiert wurden, zu Altlasten. So wie viele Gemeinden in der Finanzenge der 90er Jahre festellten, dass sie den Kapitaldienst und die Erhaltung ihre großangelegten Hallenbäder, Sportarenen, Veranstaltungszentren und Verwaltungspaläste nicht mehr bezahlen konnten, werden immer mehr der "energievergessenen" Projekte des ausgehenden 20. Jahrhunderts wie Megastadien, ICE, Provinzflughäfen und Autobahnen als Investitionsruinen dastehen. Wenn wir nicht zu arrogant wären, von der untergegangenen Sowjetunion zu lernen, könnten wir erkennen, dass der Niedergang der Wirtschaft in dem ehemals so technikversessenen Reich eine überaus wichtige Lektion bereithält: Technische Großprojekte, die unter den Bedingungen und der Voraussetzung der Größten Anzunehmenden Ordnung (GAO) und einem staatlich garantierten Angebot reichlicher und billiger Energie geplant und realisiert wurden, sind extrem anfällig gegenüber der Veränderung von Randbedingungen und können unter veränderten Bedingungen im harmlosesten Fall zu untragbaren Belastungen, im schlimmeren Fall (Nordmeerflotte von Atom-U-Booten, Atomkraftwerke) zu Altlasten mit einem ständig drohenden Katastrophenpotential werden. Einen kleinen Begriff davon, welche Kosten für eine "Rückabwicklung" entstehen, wenn man bedenkenlos über das langfristig Mögliche hinausgegangen ist, vermitteln die Versorgungsschwierigkeiten der nördlichen Regionen Sibiriens, wo man anfängt, sich Gedanken über eine Umsiedlung zu machen. "Mehr als eine Million Bürger müssten aus den Regionen des ewigen Eises evakuiert werden, schätzt der [russische] Parlamentsausschuss Hoher Norden" (Q69).

Eine Politik, die die Notwendigkeit der Gesundschrumpfung zur Erreichung einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise ernstnimmt, wird aus dieser Entwicklungsperspektive einen klaren Maßstab für die Beurteilung von Großprojekten ableiten:

Eine Infrastrukturanlage wie der Großflughafen München, der für eine Jahreskapazität von 18 Millionen Passagieren ausgelegt ist, hat die Hälfte seiner nützlichen Lebensdauer bereits heute überschritten, wenn durch ein CO2-Kontingent die Passagierzahlen in den nächsten zehn Jahren nicht mehr ansteigen, sondern auf die Hälfte sinken. Nun sind die acht Milliarden für den Bau und die Erweiterung dieses Flughafens leider schon ausgegeben und nicht mehr zurückzuholen; aber es wäre ein völlig verantwortungsloser Umgang mit knappen öffentlichen Mitteln, weiterhin solche Projekte ohne eine Zukunftsverträglichkeitsprüfung (ZVP) zu planen und zu beschließen und sie dann zu einem Zeitpunkt in Angriff zu nehmen, in der die Halbzeit ihrer Nützlichkeit bereits überschritten ist (im Fall des Flughafens München: Geplant ist ein weiterer Ausbau auf eine Kapazität von 30 Millionen Passagieren bis 2010, bis 2015 waren vor dem 11. September 50 Millionen Passagiere angepeilt).

Bei der Planung von Energie- und Transportsystemen fällt darüberhinaus entscheidend ins Gewicht, dass ihre Nutzungsdauer auf 30, 40 und mehr Jahre angelegt ist, so dass also ein Umsteuern nicht bis zu dem Augenblick aufgeschoben werden kann, in dem die Verbraucher, Nutzer und Passagiere anfangen auszubleiben.

Diese Überlegung gilt natürlich nicht nur für die Investitionen der öffentlichen Hand. In Energieprojekten - und das heißt in erster Linie in der Kohle-, Gas- und Erdölförderung, in fossilen und nuklearen Kraftwerken, in Verarbeitungsanlagen und Transportleitungen stecken weltweit dreitausend Milliarden US-Dollar noch nicht abgeschriebener Investitionen. Wenn weitere Investitionen in diesem Bereich ab sofort unterlassen würden, könnten diese Billionen während des Übergangs zur Solargesellschaft in den nächsten 30 - 40 Jahren abgeschrieben werden. Da jedoch bis jetzt höchstens Spuren einer Einsicht zu erkennen sind (z.B. wird Shell in fünf Jahren 100 Millionen Dollar in Solarenergie investieren - bei einem Gewinn von 30 mrd $ in 2006, also den Gewinn eines Tages), werden auch in der Privatindustrie noch viele Milliarden investiert werden, die sich nicht mehr amortisieren können (s.u. Automobilindustrie). Ein geradezu ungeheuerliches Beispiel: Die 40 Milliarden Euro, die im nächsten Jahrzehnt in Kohlekraftwerke investiert werden sollen.

Beispiel ICE:

Der ICE hat nach Angaben der Herstellerfirma Siemens einen Energieverbrauch von 2,5 Litern Benzin pro Sitz und 100 km, im Vergleich zum Auto mit sechs Litern und Flugzeug mit 5 Litern. Dem stellt der Verkehrsexperte Wolfgang Zängl "entgegen, dass die von der DB publizierten Zahlen von der Endenergie [Elektrizität] ausgehen, die Primärenergie jedoch, die dafür aufgebracht werden muss [Kohle, Braunkohle, Erdgas], das Dreifache davon beträgt. Das bedeutet, dass der Verbrauch des ICE an Primärenergie nicht nur schlechter ist als der eines PKW, sondern auch noch dem eines neueren Flugzeugs unterlegen ist (5 -7 Liter Airbus, 6,11 Liter PKW, 4,8 Liter ICE)" (Q70).

Daraus geht klar hervor, dass der ICE spätestens ein Jahrzehnt nach der Einführung des CO2-Budgets zu einem Luxus- und Ausnahmeverkehrsmittel wird. Die heutige hohe Auslastung der Hochgeschwindigkeitszüge geht allmählich zurück, und nach dreißig oder vierzig Jahren werden ICEs nur noch als Nostalgiezüge für Firmenausflüge verkehren.

In einer realistisch zukunftsorientierten Planung sind daher neue ICE-Trassen (wie die Acht-Milliarden-Strecke durch den Thüringer Wald und die leider schon gebaute Vier-Milliarden-Strecke zwischen München und Nürnberg) nicht mehr zu rechtfertigen. Dies umso weniger, als durch diese Projekte, deren Halbzeit bereits überschritten ist, die Mittel für die Erhaltung und Modernisierung des konventionellen Fern- und Nahverkehrsnetzes fehlen. So plante die Bahn AG 1998 die Streichung von 29 Millionen Zugkilometer im D-Zug- und Interregioverkehr - die Pläne wurden erst nach heftigen öffentlichen Protesten zurückgenommen. Eine klare CO2-Reduktionsperspektive würde auch bedeuten, dass man heute schon die weiteren 100 bis 150 ICE X, welche ab 2010 die ICEs ablösen sollen, aus der Planung und Entwicklung streichen kann.

Nicht ganz so eindeutig wie das Urteil über den ICE fällt die Bewertung der hohen Investitionen aus, die die Bahn AG in Ausbau und Modernisierung ihrer Güterverkehrskapazität stecken will. Der Verkehrsexperte Gerd Aberle, Professor an der Universität Gießen, "hält die Berechnungsgrundlage der Bahn für viel zu opitimistisch. Es sei unwahrscheinlich, dass sie ihre Transportleistung bis 2010 [von 68 Millionen Tonnen 1996] auf die anvisierten 90 Millionen Tonnen steigern könne" (Q52). Hier könnte eine ZVP davon ausgehen, dass der Güterverkehr insgesamt in den nächsten vierzig Jahren auf weniger als ein Fünftel schrumpfen wird (also von rund 425 Millionen Tonnen 1996 auf unter 100 Millionen Tonnen 2040), dass dann aber der größte Teil dieser Transporte von Bahn und Binnenschifffahrt geleistet werden, und dass die Investitionen der Bahn auf jeden Fall für die Jahrzehnte des Übergangs notwendig sind, um die Verlagerung der anfangs immer noch riesigen Transportmengen von der Straße auf die Schiene zu ermöglichen.

Beispiel Transrapid:

Nach den letzten Schätzungen vor der Aufgabe des Projekts sollte die Transrapid-Strecke von Hamburg nach Berlin statt 8,9 Milliarden DM kosten. Typisch in ihrer Realitätsverleugnung die Argumentation, mit die Investitionen in die Magnetfahrtechnik gerechtfertigt werden: "Sie ist die Verkehrstechnologie des 21. Jahrhunderts, da sie in der Lage ist, die weltweit wachsenden Verkehrsaufkommen wirtschaftlich und umweltverträglich zu bewältigen" (Q59).

Statt der 300 Kilometer Transrapid-Strecke, mit der sich die ohnehin defizitäre Bahn selbst Fahrgäste auf ihrer parallelen IC-Strecke wegschnappen würde, könnte das Unternehmen sein Zugnetz um 2300 Kilometer erweitern. "Mit den insgesamt 9,8 Milliarden staatlicher Subventionen für die umstrittene Magnetschwebebahn ließe sich im Nordosten Deutschlands ein Schienennetz erweitern und sanieren, das »sämtliche große Städte und Urlaubsregionen miteinander verbindet«", wie der BUND (Bund Natur- und Umweltschutz Deutschland) bei der Vorstellung seines Zukunftsprogramms Schiene erklärte (Q71).

Erfreulicherwiese rückte die rot-grüne Regierungskoalition von diesem Projekt noch rechtzeitig ab, das seine Halbzeit bereits vor Beginn des ersten Spatenstiches hinter sich gehabt hätte.

Noch abwegiger als die Pläne für neue Superschnellbahnen erscheinen die Projekte für die Entwicklung eines neuen Überschallflugzeugs. "Über dem Pazifik erwarten [Verkehrspolitiker und Konstrukteure] in den nächsten 20 Jahren eine Vervierfachung des Flugverkehrs und über dem Atlantik eine Verdoppelung. Um eilige Geschäftsleute und Touristen zu transportieren, sollen dann 500 oder gar 1000 Überschallflieger in 18 bis 20 Kilometern Höhe unterwegs sein. Ökologen prognostizieren allein dadurch eine globale Reduzierung des überlebensnotwendigen Ozons in der Stratosphäre um 20 Prozent" (Q53).


Beispiel Flughäfen

Bis zum Jahr 2010 wird sich nach verschiedenen Prognosen die Zahl der Passagiere auf deutschen Flughäfen von 110 Millionen 1997 bis 2010 auf 200 Millionen steigern. Daher müssen nach Angaben des Vorsitzenden des Direktoriums der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen Werner Hauschild die Flughäfen ihre Kapazitäten für 25 Milliarden Mark ausbauen. Der Flughafen Frankfurt "rechnet mit einem Wachstum der Fluggastzahlen von 41 auf 54 Millionen im Jahr. Weil Frankfurt seine maximale Kapazität mit 460 000 Starts und Landungen schon in den Jahren 2003 bis 2005 erreiche, müsse dort eine weitere Startbahn gebaut werden" (Q58).

Da nach der Einführung des schrumpfenden CO2-Kontingents die Zahl der Flugreisen erst einmal nicht mehr steigen und dann von Jahr zu Jahr zurückgehen wird, werden diese 12 Milliarden Euro schon im gleichen Augenblick in den Sand gesetzt sein, in dem sie verbaut werden. Man könnte sie bestenfalls noch als Arbeitsbeschaffungsprogramme rechtfertigen, wie sie in der Depressionszeit der 30er Jahre in USA veranstaltet wurden, und wo Leute dafür bezahlt wurden, dass sie Löcher gruben, die andere wieder zuschaufelten. Aber nicht nur ist in Deutschland der Boden viel zu knapp, als dass man ihn mutwillig zubetonieren dürfte; viel schlimmer wäre, dass mit solchen nutzlosen und umweltschädlichen Projekten die Mittel gebunden wären, die dann für sinnvolle öffentliche Projekte wie Wärmeisolierung, die Entwicklung und Anwendung erneuerbarer Energien und den Ausbau des Nahverkehrs fehlen würden.
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